Es ist erstaunlich, dass sich einstmals Philosophen anmaßten, den Inhalt und die Ausdrucksformen „eigentlicher Religion“ unabhängig von gelebter Religiosität und Theologie bestimmen zu können. Die von Kant 1793 veröffentlichte Schrift „Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ knüpft an die Ergebnisse der drei großen Kritiken an (Nichtbeweisbarkeit der Existenz Gottes in der theoretischen Vernunft, Überleben der religiösen Gehalte in Gestalt der Postulate der reinen praktischen Vernunft) und nimmt zugleich Erweiterungen vor. In Teil I finden wir eine philosophische Adaption der Erbsündenlehre („Von der Einwohnung des bösen Prinzips neben dem guten oder über das radikal Böse in der menschlichen Natur“), in Teil II eine philosophische Christologie (der „Sohn Gottes“ als „Ideal der Gott wohlgefälligen Menschheit“), in Teil III eine philosophische Ekklesiologie („Vom Sieg des guten Prinzips über das böse und die Gründung eines Reichs Gottes auf Erden“), in Teil IV die Fortsetzung der Ekklesiologie (Unterscheidung von „natürlicher“, „gelehrter“ und „statutarischer“ [verfasster] Religion). Der vernünftige Kern der Religion ist für Kant die „Moral“ bzw. die „Erkenntnis aller unserer Pflichten als Gebote Gottes“, wobei wir Handlungen nicht deshalb als verbindlich ansehen, weil sie Gebote Gottes sind, sondern wir sie als Gebote Gottes ansehen, weil wir dazu innerlich verpflichtet sind. Die Moral führt „unumgänglich zur Religion“, weil es Menschen sind, die sie erfüllen sollen. Kants Religionsschrift reflektiert auf die anthropologischen Bedingungen des Ethischwerdens der einzelnen und der Rolle der Gemeinschaft (Kirche). Die Überwindung des angeborenen „Hangs zum Bösen“ (religiös gesprochen, „Umkehr“) ist nicht ohne Mitwirken der Gnade und dem Leben der Kirche möglich.

In seiner Religionsschrift hält Kant an der Grundidee der Aufklärung fest, wonach es nur eine wahre Religion geben kann, die nicht nur nicht der Vernunft widersprechen darf, sondern durchgängig vernunftbestimmt sein muss. Auf der anderen Seite hat er die Größe anzuerkennen, dass substantielle religiöse Inhalte durch Offenbarung bekannt werden und erst nachträglich einer Prüfung durch die Vernunft unterzogen werden. Für Kant ist die wahre Religion das Christentum. Das hindert ihn nicht, dessen Gehalte bisweilen atemberaubend umzuinterpretieren.