Selbstbestimmung ist ein moralisches und politisches Grundprinzip der Moderne. Lebensvollzüge von Menschen verlaufen in autonomie-orientierten modernen Gesellschaften deutlich anders als in heteronomen Ordnungsvorstellungen vormoderner Zeiten. Das spirituelle Leben moderner Katholikinnen und Katholiken vollzieht sich daher in einer Spannung zwischen einer heteronomen, an einem vormodernen Naturrechts- und Ordo-Denken ausgerichteten katholischen Tradition, die bis heute tief in kirchliche Praxis und persönliche spirituelle Vollzüge hineinwirkt, einerseits, und der Glaubenspraxis selbstverständlich modern denkender Gläubigen, die an eine freiheitliche, das persönliche Gewissen und die Gottunmittelbarkeit des einzelnen Menschen betonende Tradition des Katholizismus anknüpfen, andererseits.
Wir befassen uns in diesem Seminar zunächst mit einem scheinbaren Dilemma: Kann es eine Freiheit des Einzelnen vor Gott geben? Wo ist zwischen Heteronomie und Autonomie Theonomie anzusiedeln? In der Auflösung dieses Dilemmas werden Eckpunkte eines philosophisch, theologisch und moralisch fundierten Konzeptes spiritueller Selbstbestimmung entwickelt. Schließlich werden ausgehend von diesem Konzept Fragen rund um die Erlernbarkeit und pastorale Ermöglichung spiritueller Autonomie erörtert. Wie verhalten sich Prozesse des Lernens und der Selbstwirksamkeit, das Bedürfnis nach Sicherheit und das nach Freiheit in der Entfaltung der eigenen Spiritualität zueinander? Auf dem Seminarplan steht die Bewusstmachung der Vielfalt christlicher Spiritualitäten, die Befassung mit ambivalenten spirituellen Ressourcen ebenso wie Analogien zwischen medizinethischen und pastoraltheologischen Konzepten von Autonomie.