Die drei Johannesbriefe zeichnen sich durch eine eigentümliche Ambivalenz aus. Auf der einen Seite finden sich Aussagen, in denen nachfolgende Generationen das Wesen des christlichen Glaubens quasi auf den Punkt gebracht sahen. Die berühmteste davon lautet: „Gott ist Liebe" (1Joh 4,8.16), ein Satz, der auch für Ludwig Feuerbach „der höchste des Christentums" ist. Laut Johannes Beutler SJ bietet der erste Johannesbrief „geradezu eine Summe christlicher Lehre". Dazu gehört auch, dass in keiner anderen frühchristlichen Schrift so tief über das Verhältnis von Christusglaube und der Liebe zum „Bruder" reflektiert wurde.
Auf der anderen Seite stehen die Johannesbriefe offenbar in einer massiv polemischen Auseinandersetzung mit innerchristlichen Gegnern, die als „Antichristen" verunglimpft werden. Die Briefe führen kaum eine inhaltliche Diskussionen mit diesen, sondern betreiben ihre gemeindliche Ausgrenzung. Hier scheint auch das auf die „Brüder" bezogene Liebesgebot an seine Grenzen zu stoßen. Ernst Käsemann sprach im Zusammenhang des johanneischen Dualismus daher mit guten Gründen von der „ehernen Kälte des angeblichen Apostels der Liebe".
Besonders spannend für uns ist die vom Verfasser nicht geleugnete Tatsache, dass diese Gegner „von uns ausgingen" (2,19), also aus der eigenen, der sog. „johanneischen" Gruppe stammen. Das macht den Konflikt brisant und erklärt auch die Schärfe der Auseinandersetzung. Neben der inhaltlichen Rekonstruktion des Konflikts, bietet dies den Anlass, sich sowohl mit dem Thema „innerchristliche Gegner" als auch mit der Frage nach dem Ursprung von „Orthodoxie" und „Häresie" zu befassen und dazu neuere Diskussionen aufzunehmen. Die Briefe sind auch ein Lehrstück darüber, wie im Kontext von Konflikten rhetorische Strategien entwickelt werden mussten, um „Antichristen" zu produzieren.

In der Vorlesung werden die drei Johannesbriefe detailliert ausgelegt, und zwar unter Hinzuziehung zentraler Passagen aus dem Johannesevangelium und anderen frühchristlichen Schriften. Es geht also auch um eine Einführung in die spezifisch johanneische Christologie, zumal gerade diese im genannten Konflikt zur Debatte stand. Neben der Einzelauslegung und den „klassischen" exegetischen Probleme (wie z.B. das Verhältnis der Briefe zum Johannesevangelium sowie die literarische Einheitlichkeit des 1Joh) beschäftigt uns v.a. die aus 2/3Joh rekonstruierbare Sozialgestalt der Trägerkreise dieser Briefe und die Frage nach den Verflechtungen mit anderen Ausprägungen des Christentums um die Jahrhundertwende, z.B. mit paulinisch geprägten Gemeinden.